Dach- und Fachverband

der Berliner Selbsthilfekontaktstellen

Was ist Selbsthilfe?

Das Eigene im Anderen wiederfinden

Eigeninitiative und Selbstbestimmung   

Das Wesen der Selbsthilfe ist die wechselseitige Hilfe auf der Basis gleicher Betroffenheit. Selbsthilfe bedeutet, die eigenen Probleme und deren Lösung selbst in die Hand zu nehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten aktiv zu werden.

In Selbsthilfegruppen finden sich Menschen, die ein gemeinsames Thema verbindet, die unter der gleichen Krankheit, Behinderung oder seelischen Konfliktsituation leiden. Auch Angehörige von Betroffenen organisieren sich in Selbsthilfegruppen.

Selbsthilfegruppen und -organisationen sind auch Foren, in denen sich Kranke, Patienten, Nutzer und Nutzerinnen von gesundheitlichen Einrichtungen das Wissen und die Kompetenz aneignen, die sie brauchen, um ihre Krankheit besser bewältigen zu können, aber auch, um sich als ‘Verbraucher’ im Versorgungsmarkt ‘Gesundheit’ besser behaupten zu können. Sie heben die Vereinzelung der Patienten gegenüber den Anbietern und Kostenträgern partiell auf. In Selbsthilfeinitiativen organisieren sich kranke Menschen ihre eigenen Lobbystrukturen.

Gruppen und Organisationen z.B. von chronisch kranken Menschen sind daher inzwischen akzeptierte und gefragte Partner professioneller Versorgung im Gesundheitswesen. Sie erbringen wichtige ergänzende Leistungen, bzw. sie tragen einen Teil der Information, Hilfe, Betreuung und Gesundheitsförderung, den der institutionelle und professionelle Sektor nicht übernehmen will und kann.

Es gibt in Berlin eine Vielzahl von Selbsthilfe-Initiativen. Das Spektrum der Aktivitäten ist weitreichend und umfaßt Gruppen zu fast allen Themen. Etwa zwei Drittel der Selbsthilfegruppen arbeiten jedoch zu gesundheitsbezogenen Themen.

Die bestehenden Selbsthilfe-Initiativen lassen sich (idealtypisch) in drei unterschiedliche Formen unterscheiden:

Die Formen der Selbsthilfe

Selbsthilfegruppen - Selbsthilfeorganisationen - Selbsthilfeprojekte

Selbsthilfegruppen

sind Gesprächskreise einer überschaubaren Anzahl von Personen (ca. 7-15 Mitglieder)

  • arbeiten selbstbestimmt, d.h. die Inhalte und Arbeitsweisen der Gruppe werden von den Mitgliedern bestimmt
  • verlangen von ihren Mitgliedern eine aktive und kontinuierliche Mitarbeit
  • werden in der Regel nicht von professionellen Helfern geleitet
  • treffen sich regelmäßig zu festgelegten Terminen (z.B. wöchentlich, 14-tägig oder einmal im Monat)

In gemeinsamen Gesprächen bei den regelmäßigen Gruppentreffen

  • erfahren die Einzelnen Entlastung und Unterstützung durch die anderen Mitglieder und
  • sehen sie, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind
  • lernen sie, ihre Schwierigkeiten zu erkennen, mit ihnen umzugehen bzw. sie zu bewältigen
  • im Mittelpunkt der Gruppenarbeit steht der gemeinsame Erfahrungs- und Informationsaustausch

In gesundheits- bzw. krankheitsbezogenen Selbsthilfegruppen informieren sich die Mitglieder gegenseitig, z.B. über Behandlungsmöglichkeiten ihrer Erkrankung, Medikamente und Nebenwirkungen oder auch zu Fragen des Schwerbehindertenrechts oder der Pflege- und Krankenversicherung.

Selbsthilfegruppen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich in erster Linie an den Wünschen und Bedürfnissen der Gruppenmitglieder orientieren. Im Mittelpunkt steht die Bewältigung des gemeinsamen Problems in der Gruppe. Obwohl diese Unterstützung eine eher nach innen orientierte Hilfe ist, helfen sich die Mitglieder damit nicht nur selbst, sondern im Austausch auch gegenseitig den anderen.

Selbsthilfeorganisationen

Selbsthilfeorganisationen sind Gruppen und Vereine, die sich über die örtliche Ebene hinaus zu Verbänden auf Landes- oder Bundesebene zusammenschließen, um so ihre Interessen zum Beispiel als Lobby der Patienten für eine bessere Versorgung wirkungsvoller vertreten zu können. Selbsthilfeorganisationen sind in der Regel Zusammenschlüsse von mehreren themengleichen Gruppen.
Im Unterschied zu Fachverbänden, Verbänden im Bereich der Wohlfahrtspflege oder der beruflichen Interessenvertretung sind Selbsthilfeorganisationen im Kern aus dem Engagement der Betroffenen und nicht aus einem Versorgungsbedarf oder beruflichen Anliegen entstanden.

In der Realität sind die Übergänge zwischen diesen Formen der Selbsthilfe und der Organisationen jedoch sehr fließend. So gibt es große Verbände von chronisch kranken Menschen, die weit verzweigte Gruppenstrukturen haben, aber mit eigenem Fachpersonal sehr professionell arbeiten und kompetente sozialrechtliche Beratung anbieten können. Diese großen Verbände zu bestimmten Krankheiten sind dann oft beides: Fachverbände und Selbsthilfeorganisationen (z.B. Rheuma-Liga, Lebenshilfe). Daneben gibt es eine Vielzahl kleiner Organisationen z.B. zu sehr seltenen Erkrankungen, die zwar bundesweit organisiert sind, aber de facto den Charakter einer Selbsthilfegruppe haben, weil es nur wenige Betroffene dazu gibt.

Sie alle bieten Hilfe, Erfahrungsaustausch, Beratung und Unterstützung an. Trotz weitreichender Professionalisierung bei Selbsthilfeorganisationen wird nach wie vor ein Großteil der Arbeit unbezahlt und freiwillig gemacht. Daher ist das konkrete Angebot und die Leistungsfähigkeit sehr unterschiedlich.

Selbsthilfeprojekte

Es gibt auch Initiativen, die ihr Wissen nicht nur innerhalb der Gruppe austauschen, sondern die gemachten Erfahrungen anderen Betroffenen zur Verfügung stellen wollen.

Sie bieten dann als Betroffene z.B. Information, Beratung und Hilfe für Betroffene bzw. ihre Angehörigen an.

Viele dieser in den so genannten neuen sozialen Bewegungen entstandenen Projekte setzten sich auch für bessere Bedingungen in der gesundheitlichen und sozialen Versorgung ein und machen durch Informationsveranstaltungen oder Öffentlichkeitsarbeit auf ihr Thema aufmerksam. Sie sind damit wichtige Instanzen für eine Weiterentwicklung auch der professionellen Hilfeformen.

Ihre Ziele gehen somit über die reine Gruppenarbeit hinaus, sind also auch nach außen orientiert.

Wirkungen von Selbsthilfegruppen

Durch das Miteinander in einer Selbsthilfegruppe können soziale, psychische und/oder krankheitsbedingte Belastungen leichter bewältigt werden. Das Wesen der Selbsthilfe ist das „Sich-Wiederfinden-im Anderen“ und damit vor allem das Gemeinschaftliche.

Mitglieder von Selbsthilfegruppen können

  • sich auf gleicher Augenhöhe begegnen und austauschen
  • sich gegenseitig bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten unterstützen
  • neue Kenntnisse über die persönliche Problemsituation erwerben
  • andere Umgangsformen mit dem Problem entwickeln
  • soziale Isolierungen und Ängste abbauen
  • gemeinsame Aktivitäten unternehmen
  • einen selbstsicheren Umgang mit Professionellen (z.B. mit Ärzten) erlernen
  • neue Lebensinhalte und Perspektiven entwickeln und
  • gemeinsame Anliegen und Interessen besser benennen und vertreten
  • sich gegenseitig ermutigen, ihre Rechte einzufordern.

Viele Mitglieder von Selbsthilfegruppen haben die Erfahrung gemacht, dass sie mit Belastungen besser fertig werden. Häufig gehen sie selbständiger und selbstbewusster als andere Menschen in vergleichbaren Situationen mit ihren Problemen um.

Unterschiede zu anderen Hilfeformen

Selbsthilfegruppen entstehen aus einem selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Engagement Betroffener bzw. Angehöriger. Die Motivation hierzu ist in dem Wunsch begründet, an der eigenen Situation etwas zu verändern und Erfahrungen mit Menschen auszutauschen, die ähnliche Probleme haben. Mitglieder von Selbsthilfegruppen verständigen sich auf der Ebene gleicher Betroffenheit und ermöglichen so ein authentisches wechselseitiges Verstehen. Professionellen Helfern ist dies in der Regel so nicht möglich.

Daher sind Selbsthilfe-Initiativen eine wesentliche Ergänzung professioneller Hilfen. Sie gleichen vor allem psychosoziale Defizite aus.

Was können Selbsthilfegruppen nicht leisten?

Selbsthilfegruppen sind Unterstützungsformen von Laien für Laien. Sie sind deswegen nicht für Menschen in akuten Krisen geeignet, die in der Regel fachliche und kompetente Hilfe brauchen.

Positive Effekte der Gruppenarbeit stellen sich nicht von heute auf morgen ein. Es dauert seine Zeit, bis durch die eigene aktive Mitarbeit in der Selbsthilfegruppe positive Veränderungen spürbar werden. Diese Zeit haben Menschen in einer akuten Krise nicht. Außerdem könnten akute Krisenzustände Einzelner die Gruppe überfordern.

Selbsthilfegruppen können eine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung nicht ersetzen, sie könnten sie aber sinnvoll ergänzen oder unterstützen.

Es ist wichtig, dass die Mitglieder kontinuierlich und aktiv am Gruppenprozess mitarbeiten. Selbsthilfegruppen sind Zusammenschlüsse, bei denen Betroffene Erfahrungen einholen und Material erbeten können. Sie sind aber meist völlig überfordert, wenn sie ausschließlich als Auskunfts- und Hilfeinstanz in Anspruch genommen werden. Die Gruppen können nur funktionieren, wenn es zu einem wechselseitigen Geben und Nehmen kommt. Sie brauchen das aktive Mittun der Ratsuchenden, denn sie arbeiten in der Regel freiwillig, unentgeltlich und mit einem hohen Einsatz privater Zeit.

Unser Verständnis von Selbsthilfe

Der Arbeit von SEKIS liegt ein bestimmtes Verständnis von Selbsthilfe zugrunde. SEKIS ist (aus seiner Entstehungsgeschichte) verwoben mit den sozialen und politischen Bewegungen (wie der Frauen-, Ökologie- oder Alternativbewegung). Selbsthilfe steht in diesem Zusammenhang sowohl für wechselseitige Hilfe gleich Betroffener und für das Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie.

Selbsthilfe in diesem Sinne stellt die Idee des gemeinsamen selbstbestimmten Handelns in den Mittelpunkt, hat also immer zwei Seiten: Die Orientierung an den Bedürfnissen der Einzelnen und den Blick auf die Gesellschaft, in die die Anliegen der Betroffenen eingebracht werden können und müssen. SEKIS will sichtbar machen, dass die Gemeinschaft auf Engagement und Vielfalt angewiesen ist. Selbsthilfe hat vor diesem Hintergrund auch mit Engagement für sozialpolitische Veränderung zu tun.

Menschen, die Heilung an Körper und Seele suchen oder die sich gesellschaftlich einmischen wollen, brauchen Begegnung, Anregung, Rat und Räume, Information und Diskussion, Anstoß und Austausch. SEKIS ermutigt und unterstützt sie in ihrem Engagement.

Im Mittelpunkt dieser Unterstützungstätigkeit stehen die Prinzipien selbst bestimmten Engagements von Betroffenen und der Autonomie von Gruppen. Damit ist gemeint, dass SEKIS nicht von sich aus Gruppen gründet (auch wenn ein Bedarf noch so offensichtlich erscheint), sondern nur 'Betroffenen' auf ihrem Weg zur Seite steht.

Selbsthilfe ist auch nicht gleichbedeutend mit Gruppenaktivitäten und unterscheidet sich von sozialpädagogischer oder therapeutischer Gruppenarbeit. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Selbsthilfe scharf von professioneller Arbeit abgrenzt, denn eine Vielzahl von Gruppen, die von so genannten 'Betroffenen' ausgehen und initiiert wurden, entwickeln sich zu selbst organisierten Projekten von hoher fachlicher Kompetenz weiter.

Mit Selbsthilfegruppen werden einerseits die Chance für jeden Einzelnen unterstützt, selbst bestimmt nach den eigenen Möglichkeiten zu leben; und andererseits wollen wir mit der Förderung von selbst organisierten Projekten und kleinen freien Trägern zu Pluralität und Vielfalt in der sozialen Versorgung beitragen.

SEKIS fördert das breite Spektrum von kleinen freien Trägern, Betroffenen-Organisationen, Bürgerinitiativen und gemeinnützigen Vereinen. Grundidee für die Arbeit ist die Erkenntnis, dass gerade die vielfältige Struktur kleiner Anbieter und informeller Gruppen mit ihrer großen Flexibilität und Nähe zu 'Betroffenen' ein hohes Maß an Initiative und Solidarität für die Gemeinschaft mobilisiert. Diese Angebote im nichtprofessionellen Bereich, in dem die Kompetenzen von Laien, den 'Experten aus eigener Betroffenheit' und Fachleuten zusammenfließen, haben eine eigene Qualität, die eine wichtige Ressource für die Zukunft des Sozialen ist.